In den ersten Monaten seiner Existenz hat das Flüchtlingslager Al-Zaatari bereits mehrfach negative Schlagzeilen gemacht. Ein Besuch im Oktober 2012 macht deutlich, warum die Lebensbedingungen in Al-Zaatari bereits gewaltsame Spannungen hervorgerufen haben. Al-Zaatari wurde erst im Juli 2012 gegründet und es fehlen nach wie vor grundlegende Einrichtungen und Infrastruktur. Es befindet sich in der Nähe von Mafraq, ca. 80 Kilometer nördlich von Amman und nur sechs Kilometer südlich der syrischen Grenze. Das Lager besteht aus endlosen Zeltreihen. Flüchtlinge, die gerade dem Schrecken des syrischen Bürgerkrieges entkommen konnten, sind der Hitze und dem Sand fast schutzlos ausgeliefert. Der Teil des Lagers, der mit Schotter bedeckt ist, wird von jenen Flüchtlingen, die noch auf dem staubigen Wüstenboden sitzen, mit Neid betrachtet und nahezu als „Luxus“ bezeichnet.
Verschiedene Nationen leisten medizinische Grundversorgung und eine Einheit des UNFPA (United Nations Population Fund) sorgt insbesondere für die gesundheitliche Versorgung und Aufklärung von Frauen und Kindern. Neben den schlechten Bedingungen fehlt es vielen Flüchtlingen, die aus den syrischen Dörfern jenseits der Grenze stammen, an Grundwissen, wie sie unter den schwierigen Bedingungen ihre Hygiene und Gesundheit gewährleisten können. Viele sind traumatisiert von den schrecklichen Erlebnissen des Krieges in Syrien.
Dazu kamen während meines Besuches ein Mangel an Hygiene-Sets der UN und Probleme bei der Ausgabe der Versorgung. Wegen Stromausfall im Lager war es der UN über einen ganzen Tag lang nicht möglich, die Rationen für die Flüchtlinge zu registrieren. Mithilfe von UNICEF wurden einige Schulen in Betrieb genommen, um mehr als 2.000 Kinder zu unterrichten. Das ist nicht annähernd genug, um den Mindestbedarf zu decken, ca. Zweidrittel der Flüchtlinge sind jünger als 18 Jahre. Die Kinder leiden besonders an den unmenschlichen Bedingungen im Lager: Wasser ist knapp, Toiletten und Waschräume funktionieren nicht, nach Angaben der Flüchtlinge ist die Qualität des Essens sehr schlecht und viele Familien sind schutzlos angesichts von Hitze und Staub, besonders wenn es zu Sandstürmen kommt.
Während der Gespräche mit den Flüchtlingen sind ihre Verzweiflung, ihre Wut und Hilflosigkeit allgegenwärtig. Am 2. Oktober gipfelte diese Wut erstmals in gewaltsamen Protesten, wobei einige Container zerstört und angezündet wurden, darunter eine Einrichtung des deutschen Technischen Hilfswerks (THW). Flüchtlinge erzählen, dass aufgrund der Bedingungen zwei Kinder während eines Sandsturms ums Leben kamen, was lokale Mitarbeiter von Hilfsorganisationen jedoch nicht bestätigen können.
Schätzungen bezüglich der Anzahl von Flüchtlingen im Lager belaufen sich auf 20.000 bis 35.000 (siehe UNHCR Statistiken). NGO- MitarbeiterInnen zufolge kehrten aufgrund der Bedingungen in Al-Zaatari bereits bis zu 5.000 Menschen zurück nach Syrien. Versuche, das Lager zu verlassen und in Jordanien Fuß zu fassen, scheitern in der Regel an der finanziellen Situation der Flüchtlinge. Die meisten sind ohne Hab und Gut aus Syrien geflohen, das Leben in Jordanien aber ist teuer, und es muss ein jordanischer „Sponsor“ gefunden werden, der eine Bürgschaft übernimmt.
Die Mutter einer Familie, die wir am Eingang des Camps treffen, berichtet: „Wir sind als erstes im Lager angekommen, aber sind dann wegen der krassen Zustände hier nach Irbid [nahegelegene jordanische Stadt, mit zweitgrößter Einwohnerzahl nach Amman] gegangen. Aber in Irbid gab es keine Chance zu arbeiten, und die Lebenshaltungskosten sind hoch. Jetzt kommen wir zurück ins Lager, aber wir wollen nicht bleiben; die Hitze, der Staub, das kochend heiße Wasser…Wir gehen lieber zurück und sterben in Dera‘a [Stadt in Syrien jenseits der Grenze; dort gingen die Proteste gegen das Regime los, seither steht die Stadt unter massiven Beschuss durch die syrische Armee] als hier in Al-Zaartari zu bleiben.“
Nach unterschiedlichen Angaben kamen bereits mehr als 100.000 syrische Flüchtlinge vor der Eröffnung des Lagers Al- Zaatari nach Jordanien, die genaue Zahl kennt derzeit niemand. Die jordanischen Behörden beaufsichtigen alle Aktivitäten im Lager, die Administration übernimmt der UNHCR. Die internationale Hilfe für die Flüchtlinge läuft zwar, aber die finanziellen und logistischen Herausforderungen sind gewaltig. Hochrangige Delegationen besuchen das Lager fast täglich, aber bisher werden Fortschritte nur langsam erzielt. „Hier kommt jeden Tag jemand vorbei, um uns an der Arbeit zu hindern“ kommentiert ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, während eine Reihe gepanzerter Autos im Lager eintrifft. Kürzlich seien aufgrund des Besuchs von Kronprinz Hassan von Jordanien fünf Stunden lang keine Wasserkanister ins Lager geliefert worden. Die Sicherheitsauflagen sind nach den Unruhen im Lager hoch.
Aufgrund der steigenden Frustration in der eigenen Bevölkerung wird Jordaniens Regierung offensichtlich zunehmend unruhig. Die wachsenden Rufe nach Reformen, mehr Partizipation und besserer wirtschaftlicher Perspektive tragen zum Misstrauen der Staatsmacht gegenüber dem Flüchtlingsstrom bei. Offiziell gibt sich die Regierung zwar hilfsbereit, aber die Reaktion unterscheidet sich deutlich von der Aufnahme hundert Tausender Irakerinnen und Iraker nach dem Krieg von 2003. Jordanien steht vor großen Herausforderungen, die Ressourcen sind knapper denn je, die Wassersituation im Land bedrohlich und das Haushaltsdefizit wächst unaufhörlich aufgrund der jordanischen Subventionspolitik für Benzin und Grundnahrungsmittel.
Eine Protestkundgebung am 5. Oktober mit 15.000 Menschen im Zentrum von Amman, mit organisiert von den Muslimbrüdern, hat jüngst das Potential von Protesten gegen die Regierung und den König gezeigt. Die Demonstranten riefen „das Volk will die Reform des Regimes“ (eine Variation des ägyptischen Slogans „das Volk will den Fall des Regimes“), aber rote Linien scheinen bei den Protesten immer schneller zu verschwinden. Der interne Druck wird vermutlich Jordaniens Reaktion auf den Flüchtlingszustrom weiter verhärten. Zuletzt schickten die USA Militärberater ins Land, um die Auswirkungen der Krise in Syrien einzudämmen. Mit militärischen Mittel werden sich aber die Probleme in Jordanien nicht lösen lassen. Die internationale Gemeinschaft muss darauf drängen und dafür sorgen, dass Menschenrechtsverletzungen verhindert werden und die dringend benötigte Hilfe für die Flüchtlinge im Land sichergestellt wird.
Übersetzung aus dem englischen Originaltext: Eva Hösch, Ramallah
René Wildangel ist Leiter des Büros der Heinrich Böll Stiftung in Ramallah.